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Der dritte Adventssonntag ist in der Katholischen Kirche der Sonntag "Gaudete" nach der lateinischen Einladung zu Beginn der Eucharistiefeier: "Freut euch!" – "Gaudete". So steht es im Brief des Apostels Paulus an die Philipper. Der ganze Vers lautet: "Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch! Eure Güte werde allen Menschen bekannt" (Phil 4,4).
Spontan könnte einem die Frage kommen: Freude zu jeder Zeit? Passt diese Ansage denn überhaupt in unsere Zeit hinein, die geprägt ist von Krisen, Hungersnöten und Kriegen? Was mag der Grund dieser Freude sein, die die Kirche jedes Jahr ohne Rücksicht auf Konjunktur und Weltfrieden zu verkünden wagt? Der Apostel Paulus gibt eine ebenso schlichte wie überzeugte Antwort: "Freut euch! … Denn der Herr ist nahe" (Phil 4, 4.5b).
Dieses grundlegende Vertrauen des Apostels auf die Nähe des Herrn äußert sich in einem geradezu familiären Verhältnis zu Gott, zu dem er die Gemeinde in Philippi einlädt, wenn er fortfährt: "Sorgt euch um nichts, sondern bringt in jeder Lage betend und flehend eure Bitten mit Dank vor Gott! Und der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt, wird eure Herzen und eure Gedanken in der Gemeinschaft mit Christus Jesus bewahren" (Phil 4, 6-7). – Was Paulus empfiehlt, ist offensichtlich nicht die schnelle Vertröstung in einer geistlichen Flucht aus dieser Welt und ihren konkreten und oft bedrohlichen Umständen.
Trotz aller Sorgen des Alltags und gegen den allgemeinen gesellschaftlichen Trend bekennt Paulus sich nachdrücklich zur Freude und zum Frieden. Der entscheidende Grund dafür liegt darin, dass die erste christliche Gemeinde auf europäischem Boden, die bleibende Nähe Jesu Christi erlebt. Da fragt sich vielleicht so mancher: Wie bleibt uns denn heute der Herr nahe? Wie nahe ist uns denn der Herr wirklich?
Ein Bild der einzigartigen Nähe Gottes durch Jesus Christus begegnet mir in der Skulptur "Der Bettler" von Ernst Barlach, die seit 2007 im Kreuzgang des Münsteraner St.-Paulus-Doms aufgestellt ist: Eine gewaltige Bronzeplastik, 2,17 Meter hoch. Eine ausgemergelte Gestalt auf Krücken, aufgerichtet, mit dem Blick nach oben, der Mund halb geöffnet. Ein erbärmlicher Anblick – und doch voller Hoffung. Ernst Barlach war auf einer längeren Reise durch Russland im Jahr 1906 unzähligen Bettlern begegnet. In ihnen entdeckte Barlach die Konfrontation des Menschen mit dem Dunkel und den Abgründen des Lebens. Aber auch Menschen, die aus den vielfältigen Nöten ihres irdischen Alltags mit verzehrender Leidenschaft Rettung und Heil suchen.
Die Skulptur "Der Bettler" hält dem Betrachter einen Spiegel vor. Wir können uns in ihr wieder erkennen. Sie ist wie der in Bronze gegossene Zustand unseres gesamten irdischen Lebens. "Der Bettler", der Mensch, wir: zurückgeworfen auf die kalte Existenz: gebrechlich, verwundbar, angewiesen auf Krücken, – aber dennoch aufgerichtet. Der Mensch am Ende seiner eigenen Möglichkeiten: einsam, dem Tod geweiht, erdrückt durch eine Welt, in der jeder nur sich selbst der Nächste ist, – aber dennoch mit einem sehnsuchtsvollen Blick nach oben. Der Mensch, reduziert auf das, was er sich zutiefst ersehnt: gesehen und angesprochen, umarmt und geliebt zu werden. "Der Bettler", der Mensch, wir: ein offener Mund, eine Frage: Wo ist Erlösung, wo Heilung, wo Versöhnung? Wer wird unser Leben, unsere Zukunft sein?
"Freut euch! … Denn der Herr ist nahe", so hat Paulus das ausgedrückt. (Phil 4, 4b.5b). Die Skulptur "Der Bettler" von Ernst Barlach kann uns einen Zugang erschließen, wie Gott uns in Jesus Christus nahe ist und bleibt und zum Grund unserer Freude werden kann. Nicht, dass nicht auch andere Religionen eine irgendwie geartete Vorstellung von der Nähe und vom Kommen Gottes hätten.
Das unerhört Andere und Unerwartete ist jedoch im Christentum die Weise, wie Gott in diese Welt kommt, in welcher Gestalt er uns Menschen begegnet und erlöst. Hier überholt der christliche Glaube bei weitem die vagen Vorstellungen der Gottesoffenbarung anderer Religionen. Denn der Messias kommt ganz unscheinbar zur Welt, als einer von uns, als nackte Existenz in einer Futterkrippe, hineingeworfen in das Wohl und Wehe des menschlichen Dramas. Jesus Christus ist der in die Welt geworfene und geradezu "herunter gekommene" Gott. Der Messias Jesus Christus stellt sich an unsere Seite, gewissermaßen als "Bettler" unter "Bettlern".
Schon als Kind in der Krippe möchte er angewiesen sein auf die Liebe der Menschen, die ihn umgeben. Und sein ganzes Leben, seine Botschaft, seine Wunder, sein Leiden und schließlich sein Tod sind das große Zeugnis des Gottessohnes, der um unsere Liebe und Barmherzigkeit, um unsere Bereitschaft zu Friede und Versöhnung bettelt.
Jesus Christus in der Gestalt des Menschen, des Bettlers, des Sklaven: Einer von uns und an unserer Seite. Das ist für den Apostel Grund beständiger Freude über die bleibende Nähe des Herrn. Denn Jesus Christus ist der Gott, der unser Schicksal teilt, mit uns hineingeht in unser Sehnen und Suchen, in Furcht und Finsternis unseres Lebens. Jesus Christus, Gottessohn und menschlicher "Bettler". Das ist wohl der schönste Gottesbeweis, weil Gott uns Menschen in unserer Freiheit ernst nimmt und sich einfühlsam dort zu erkennen gibt, wo sich unser Wohl und Wehe, unsere Lebensfülle und Sinnlosigkeit, wo sich unser Leben und unser Tod entscheiden: an der Frage, ob unsere armselige Existenz im Letzten wirklich angenommen ist und über unseren physischen Tod hinaus geliebt, versöhnt und im Leben Gottes geborgen ist.
Paulus und die frühchristliche Gemeinde von Philippi erfahren beständig, dass dieser Gott, der mit dem Kreuz Jesu Christi seine überwältigende Liebe in diese Welt ein für alle Mal eingepflanzt hat, seit der Auferstehung Jesu und der Ausgießung seines Geistes am Pfingsttag nicht aufhört, die Menschen an ihre eigene, tiefste Berufung zu erinnern: Als Söhne und Töchter Gottes zu leben, glaubwürdige Zeugen der wehrlosen Liebe, des friedlichen Umgangs miteinander und der unbedingten Gewaltlosigkeit zu sein. Kann diese Erfahrung nicht auch Grund unserer Freude werden? Denn der Herr ist nahe, - er bleibt nahe!
"Freut euch! … Denn der Herr ist nahe" (Phil 4, 4b.5b). Das ist die Botschaft, die die Katholische Kirche am dritten Adventssonntag in diese Welt hineintragen möchte. Ob sie diese Botschaft glaubwürdig vermitteln kann, hängt wesentlich davon ab, ob die Christen miteinander diese Botschaft verkörpern und erfahrbar werden lassen. Die Freude an der bleibenden Gegenwart des Herrn braucht den Raum ehrlicher und wahrhaftiger Begegnung, damit sie nicht oberflächlich oder aufgesetzt wirkt. Wenn die Gegenwart des auferstandenen Herrn unser tägliches Leben prägt, dann eröffnet die tiefe Freude an der bleibenden Nähe Gottes den Raum für Begegnung, in der die Christen Freude und Leid miteinander teilen, einander beistehen und im täglichen Leben einander mittragen.
Der Apostel Paulus ermutigt die Gemeinde in Philippi zu dieser Haltung, wenn er schreibt: "Eure Güte werde allen Menschen bekannt. Denn der Herr ist nahe" (Phil 4, 4.5b). Kirche ist die Gemeinschaft der Jünger, die in Offenheit und Liebe einander begegnen. So ist der auferstandene Herr selbst unter ihnen gegenwärtig, gemäß seinem Wort: "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen" (Mt 18, 20). Kirche ist daher die lebendige und erfahrbare Gegenwart des auferstandenen Herrn in Gemeinschaft und als Gemeinschaft.
Wie diese Nähe Jesu Christi auch heute in einem christlichen Leben ausstrahlen und zum Grund der Freude werden kann, wurde mir durch die E-Mail eines Jugendlichen bewusst, der im Frühjahr das Abitur gemacht hat. Er schrieb mir folgende Zeilen: "Vorgestern habe ich meine mündliche Abiturprüfung mit 14 Punkten abgelegt… Da fiel mir … ein großer Stein vom Herzen. Auch in diese Prüfung ging ich … voller Gelassenheit, da ich die Gewissheit hatte, dass ich nicht allein in diese Prüfung gehe, sondern dass viele Menschen mir in Gedanken und im Gebet den Rücken stärkten und so der Auferstandene nicht von meiner Seite wich. Das fiel auch der Prüfungskommission auf, die mich … fragte, wie ich so ruhig und gelassen in meine Abiturprüfung gehen konnte. Als ich ihnen das Gleiche erzählte, was ich gerade schrieb, lächelte mein Lehrer nur und sagte, es sei gut, in der heutigen Zeit auch einmal eine solche Antwort zu hören."
Ist das nicht ein lebendiges Zeugnis für die Botschaft dieses Sonntags "Gaudete": "Freut euch im Herrn zu jeder Zeit! Noch einmal sage ich: Freut euch! … Der Herr ist nahe" (Phil 4, 4.5b)! Der Glaube daran, dass Jesus Christus gerade dann, wenn wir uns freuen, einander lieben und dienen nahe ist, möchte hier und jetzt die Maßstäbe unseres Denkens, Fühlens und Handelns durchdringen, sodass die Freude über unsere Erlösung das Miteinander der Gemeinden und Gemeinschaften prägt. So sollen auch unsere Pfarrgemeinden und Gemeinschaften als Räume der Begegnung erlebt werden, in denen der Auferstandene nicht von unserer Seite weicht.
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Text: Weihbischof Christoph Hegge
Foto: Michael Bönte, Kirche+Leben